Historische Orte in Hameln

 

Der historische Hintergrund

Ansprache zur Einweihung

 

Bernhard Gelderblom

Wozu Geschichts- und Erinnerungstafeln für die Gräber
der Kriegsopfer auf dem Friedhof Wehl?

 

Ich will versuchen, die Frage zu beantworten, indem ich auf die Geschichte der Gräber und den Umgang mit ihnen eingehe.

1934 begann - nach älteren Planungen - die Anlage des Friedhofes "Am Wehl". Heinrich Spanuth, der Verfasser der Geschichte der Stadt Hameln, formuliert im Stil der Zeit:

"Draußen am Wehl schlug die Stadt Hameln im Frühjahr 1934 nach der Machtergreifung mit der Anlage eines neuen Friedhofs ihre erste große Arbeitsschlacht".

Am 7. Mai 1938 findet die

"feierliche Übergabe des städtischen Friedhofs am Wehl, zu dem eine Kapelle mit Pfarrerzimmer und Leichenhalle sowie ein Verwalterwohnhaus mit Wirtschaftsteil gehören", statt.

Die markige Kontur der Gebäude ist ein Hinweis auf die Entstehungszeit.

Ende 1938 gibt es die ersten Bestattungen auf dem schönen Waldfriedhof.

Die erste offizielle Erwähnung eines soldatischen "Ehrenfriedhofes" "am Wehl" datiert vom April 1940. Der Überfall auf Polen ist erst wenige Monate alt. Die Stadt überlegt, die Gefallenen vom großen Krieg 1914/1918, die auf dem Garnisonfriedhof an der Deisterstraße liegen, auf den Wehl umzubetten, um keine (Platz-) Probleme bei Gedenkfeiern (und den künftigen Siegesfeiern) zu bekommen (1. Juli 1940). Dem Ehrenfriedhof wird die zentrale Achse des Friedhofes vorbehalten.

Noch schreiten Hitlers Soldaten von Sieg zu Sieg, scheint der Krieg von Hameln weit entfernt. Drei Jahre später – 1943 – hat sich das geändert. Die Verantwortlichen stellen erste Planungen an, wo die Toten bestattet werden können, die der gegenwärtige Krieg fordert. Die Würdigung der Gefallenen der Stadt Hameln soll in dem bereits geplanten "Ehrenhain" nach der (siegreichen) Beendigung des Krieges vorgenommen werden (2. Nov. 1943).

Nach den großen Bombenangriffen auf Hannover im Herbst 1943 wird das Problem dringlich. Auch für Hameln werden Vorsorgemaßnahmen getroffen. Ausweichquartiere für Ausgebombte werden angelegt, zentnerweise Grundnahrungsmittel eingelagert. 134 Särge für Erwachsene und 48 für Kinder stehen bereit. Für den Wehl ist ein 324 Grabstellen umfassendes Bombenopfergräberfeld mit "Weihestätte" vorgesehen.

Ein halbes Jahr später wird dieses Feld zum ersten Male belegt. Nachdem am 7. Juli 1944 Flugzeuge zahlreiche Bomben auf die Siedlungen am Basberg werfen, findet für die 19 Toten zwei Tage später hier die erste große Trauerfeier statt.

Etwa zur selben Zeit wird am Randes des Friedhofes in ganz abseitiger Lage ein weiteres Gräberfeld neu angelegt.

Obwohl dort nicht hingerichtet wird, sterben im Verlauf des Krieges im Zuchthaus zahlreiche Männer an schlechter Ernährung, mangelnder Hygiene und überharter Arbeit. Im Zuchthaus selbst nennt man das Gräberfeld "Verbrecherfeld".

Zur gleichen Zeit sterben Männer, Frauen und Kinder aus der Gruppe der Zwangsarbeiter. Sie sind Ausländer. 10.000 waren hierher und in die Umgebung Hamelns verschleppt worden, vor allem aus Polen und der Sowjetunion, aber viele auch aus den Niederlanden und Frankreich. Wo soll man diese Menschen bestatten?

Durch Erlass war angeordnet worden, "Ostarbeiter" und Polen genügend getrennt von den deutschen "Volksgenossen" zu bestatten. Damit kamen die Friedhöfe, auf denen Deutsche lagen, nicht in Frage.

Nach längerem Überlegen verfiel man in Hameln auf die Idee, Zwangsarbeiter und gefallene alliierte Soldaten auf dem sogenannten "Russenfriedhof" zu bestatten. Dieser war im 1. WK am Rande des riesigen Kriegsgefangenenlagers errichtet worden, das hier von 1914 – 1918 bestand, und mit über 700 Bestattungen russischer und serbischer Soldaten voll belegt. Noch heute sieht nur, wer genau schaut, dass auf diesem Feld nicht allein Soldaten liegen, sondern auch Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder.

Zum Kriegsende macht der Tod in Hameln überreiche Ernte. Zwangsarbeiter, die an Mangelkrankheiten sterben und den Bombenangriffen ungeschützt ausgesetzt sind, werden auf dem "Russenfriedhof" zuletzt in Massengräbern beigesetzt.

Als Ende 1944 im Zuchthaus Hygiene und Ernährung zusammen brechen und täglich Tote zu beklagen sind, bestattet man auf dem "Verbrecherfeld" ohne Sarg und – aus Ersparnisgründen – jeweils zwei Leichname übereinander.

Auch auf der Bombenopferweihestätte finden Bestattungen statt. Der furchtbare Angriff auf den Bahnhof vom 14. März 1945 fordert fast 200 Tote. Die bereit gestellten Särge reichen nicht aus. Sieben Tage später, am 20. März, findet die – wie die DEWEZET schreibt – "ergreifende Trauerfeier" hier auf dem Wehl statt. Solange brauchte man, die Vielzahl der Leichname zu bestatten und wenigstens teilweise zu identifizieren.

Nach dem Kriege gedenkt man bald der Opfer. Am 23. Juli 1947 meldet die DEWEZET, dass ein "Ehrenbegräbnisplatz für Gefallene" im Entstehen sei. Die Gestaltung führt die Planungen von 1940 zu Ende. Der Platz des "Ehrenbegräbnisses" liegt in der zentralen Achse des Friedhofes.

Hier liegen die Bombenopfer, soweit sie Deutsche waren. Hier entsteht – unterhalb des Bombenopfergräberfeldes – durch Umbettungen ein Feld für deutsche Soldaten, die bei den letzten Kämpfen um Hameln und die sogenannte "Weserlinie" gefallen waren.

Während der Opfer der Deutschen mit einem "Ehrenbegräbnisplatz" gedacht wird, beklagen Angehörige von Männern, die im Zuchthaus gestorben waren, dass das Feld schlecht gepflegt sei. Sie müssen außerdem für die Pflege der Gräber bezahlen.

Die unmittelbare Nachkriegszeit schafft eine neue Opfergruppe. Die britische Besatzungsmacht versucht das im Kriege durch Deutsche verübte Unrecht juristisch aufzuarbeiten. Als erste verurteilt sie die Mitglieder der Wachmannschaft von Bergen-Belsen in Lüneburg zum Tode. Ihre Hinrichtung durch den Strang und alle weiteren, die noch folgen werden, erfolgt in Hameln.

Die Briten, die einen Kult um die Toten verhindern wollen, verlangen die anonyme Bestattung. Die ersten Leichen werden deshalb auf dem Zuchthausgelände begraben. Nachdem der Platz dort nicht ausreicht, wählt die Stadt 1946 ein Feld auf dem Wehl aus. Die Wahl fällt auf einen Platz unmittelbar benachbart den Zuchthausopfern.

So liegen nun die junge SS-Aufseherin Irma Grese, die Hunde auf Häftlinge hetzte und sie mit der Peitsche schlug, und Josef Kramer, der Lagerkommandant in Auschwitz und Bergen-Belsen gewesen war, neben dem Sozialdemokraten, der wegen Rundfunkverbrechen zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt, und neben dem Holländer, der wegen Widerstand gegen die Deutschen zum Tode verurteilt worden war. ...

Die Nachkriegszeit spricht lange und ungebrochen weiter von Heldentod, Opfermut und Pflichterfüllung. Die von den Briten Hingerichteten gelten bei großen Teilen der Bevölkerung als Opfer der Besatzungsjustiz, während jene, die im Zuchthaus krepiert waren, "Zuchthäusler", also Verbrecher sind.

Ansprachen
Unter den Zuhörern zahlreiche Mitglieder von Rat
und Verwaltung - Foto: Maike Juniel

So kommt es 1975 zu dem schrecklichen Irrtum, das Feld der Männer, die während des Krieges im Zuchthaus gestorben waren, einzuebnen. Trotz Anspruch auf Kriegsgräberstatus werden ihre Gräber beseitigt, weil ihre Liegezeit abgelaufen sei.

Gleichzeitig überlassen die Verantwortlichen dieser Stadt die Gräber jener Männer und Frauen, die von den Briten wegen Kriegsverbrechen hingerichtet waren, der Pflege einer Bürgerinitiative, die dort nationale Gedenkfeiern abhält. Und nur zögernd und widerwillig fällt die Stadt 1986 die Entscheidung, die Gräber der Kriegsverbrecher einzuebnen, nachdem Hameln wegen rechtsradikaler Aufmärsche in die überregionalen Medien geraten war.

Vielleicht wird heute zum ersten Male aller hier bestatteten Opfer des von Deutschen begonnenen Krieges gleichzeitig und in gleicher Weise gedacht und damit den fast vergessenen Toten des Zuchthauses, den gestorbenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und den gefallenen ausländischen Soldaten Gerechtigkeit zuteil. Dazu sind die Geschichts- und Erinnerungstafeln eine große Hilfe.

 

Bernhard Gelderblom

Ansprache zur Einweihung am 12. Dezember 2005

 
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