Zur Geschichte der Juden in Hameln

und in der Umgebung

 

Die jüdische Gemeinde Hessisch Oldendorf

Landkreis Hameln-Pyrmont (früher Rinteln/Schaumburg)

 

Aus der Geschichte des Ortes
Die jüdische Gemeinde im Mittelalter und der frühen Neuzeit
Die jüdische Gemeinde im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Die NS-Zeit
Nach 1945
Die Namen der Opfer
Politische und religiöse Zugehörigkeit der Gemeinde
Gesamteinwohnerzahl / darunter Juden
Literatur

  

Dieser Beitrag wurde von Erik Hoffmann verfasst.

 

Aus der Geschichte des Ortes

Oldendorf war eine planmäßige Gründung der Grafen von Schaumburg, Holstein und Stormarn im 13. Jh., wurde aber erst 1327 urkundlich als Stadt bezeichnet. Obwohl nie von einer Stadtmauer umgeben, entwickelte sich Oldendorf zu einem wohlhabenden Marktort, dessen Einwohner vom Handwerk und vom Bierbrauen lebten. Nachdem der letzte Schaumburger Graf gestorben war und keine männliche Nachkommen hinterließ, wurde die Grafschaft 1647/48 aufgeteilt: Ein Teil ihres Territoriums, darunter die Stadt Oldendorf, kam an die Landgrafschaft Hessen-Kassel (später Kurfürstentum Hessen). Stadt und Region verloren durch den Dreißigjährigen Krieg ihren Wohlstand und litten auch stark im Siebenjährigen Krieg. Am Rande einer residenzfernen Exklave gelegen, konnte die ländlich geprägte Kleinstadt nur bescheidene Bedeutung erlangen. Bevölkerungszahl und Wirtschaft stagnierten. Nach der Eröffnung der Eisenbahnlinie Hameln-Löhne im Jahre 1875 wurden mehrere Fabriken in der Stadt gegründet, die nun ihren Namen in Hessisch Oldendorf änderte.

 
Bild
 

Die jüdische Gemeinde im Mittelalter und der frühen Neuzeit

Hamelner Urkunden aus den Jahren 1322 und 1355 erwähnen zwei aus Oldendorf zuziehende Juden. Für das Ende des 16. Jh.s ist wieder eine jüdische Familie in Oldendorf nachweisbar: In einem Rechtsstreit wegen angeblicher Hehlerei unterstützte der Oldendorfer Bürgermeister 1597 den Juden Isaak, bescheinigte ihm eine untadelige Führung und ersuchte den Grafen um Beistand für ihn. Diesem Isaak von Oldendorpe wurde 1601 gegen ein jährliches Schutzgeld von 6 Tlr. ein älteres Privileg verlängert und die Fortsetzung des Handels und Geldverleihs gegen Zinsen und Handpfänder gestattet. Ebenfalls von 1601 existiert der Entwurf eines Vertreibungsbefehles für alle Schaumburger Juden, der aber nicht wirksam wurde. 1604 protestierte der Oldendorfer Rat gegen einen weiteren Zuzug von Juden. Nach 1614 wurde eine städtische Kreditbank mit dem Argument übermäßiger jüdischer Zinsforderungen gegründet. Die Schutzgelder aller etwa 30 Schaumburger Juden lieferte der Stadthäger Jude Spanier an den Grafen ab. Im weiteren gab es nicht mehr als drei jüdische Haushalte in Oldendorf. Sie alle verließen um 1630 die Stadt.

Zwischen 1660 und 1723 wohnten drei Familien Wallach in der Stadt und befassten sich mit Handel und Geldgeschäften. Mehrmals trat Michael Wallach als Kreditgeber der Stadt auf. Um 1675 erhielten die Juden einen Begräbnisplatz auf dem Stadtwall in Erbpacht, der bis Mitte des 19. Jh.s benutzt wurde. Ab 1710 erwarben die Juden in Oldendorf Hausbesitz. Nach den Wallachs wurden drei andere jüdische Familien ansässig und handelten mit Ellenwaren, Häuten und Fellen. 1744 lebten die Schutzjuden Jacob Hirsch und Isaac Levi in Oldendorf. Während des Siebenjährigen Krieges versorgte der Oldendorfer Simon Moses die alliierten Truppen mit bedeutenden Mengen an Brot und Pferdefutter. Um 1770 umfassten die drei jüdischen Kaufmannsfamilien 14 Personen. 1789 verhinderten die Stadtprediger mit massiven antijüdischen Argumenten, dass sich der Metzger Simson Levi ein Haus an der Stadtkirche kaufen konnte.

 
Bild
 

Die jüdische Gemeinde im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Im Zuge ihrer bürgerrechtlichen Emanzipation während der napoleonischen Zeit mussten die Juden feste Familiennamen annehmen: Die Oldendorfer wählten die Namen Rosenberg, Blumenthal und Lilienfeld. An den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon nahm auch der Oldendorfer Baruch Blumenthal teil und erhielt dafür 1823 eine Ehrenmedaille des zurückgekehrten Kurfürsten. Zwischen 1823 und 1850 wuchs die jüdische Gemeinde von 29 auf 43 Personen; die Stadtbevölkerung von 1.175 auf 1.343 Einwohner. Die nunmehr vier Familienvorstände betätigten sich als Metzger oder Kaufleute. Sie lebten in unterschiedlichen Vermögensverhältnissen. Namentlich die Brüder Rosenberg (Bank- und Kolonialwarengeschäfte) und der Kaufmann Nathan Peritz Lilienfeld gelangten zu Wohlstand. Lilienfeld zog 1843 in den ständigen Bürgerausschuss ein, 1848 in den Stadtrat. Die kurhessische Verfassungsänderung von 1852 erkannte den Juden die staatsbürgerlichen Rechte wieder ab, und Lilienfeld musste den Stadtrat verlassen. Erst nach der Annexion Kurhessens durch Preußen erhielten die Juden 1869 ihre rechtliche Gleichstellung wieder.

Durch landesherrliche Verordnung von 1823 wurde die Synagogengemeinde Oldendorf gebildet, der die Juden in Großenwieden, Deckbergen, Hattendorf und Fischbeck angeschlossen waren. Zunächst befand sich ihr Bethaus in einem Hinterhof, später wurde ein Betraum in einem christlichen Wohnhaus angemietet. Die ersten Gemeindeältesten waren Nathan Peritz Lilienfeld, Aron Meyer Levi (Fischbeck), Joseph Rosenberg sowie Hermann Wolfes aus Elze, der Schwiegersohn von Lilienfeld. Lilienfeld selbst war von 1833 bis zu seinem Tod 1862 Vorsteher der Kreisjudenschaft.

Der alte Friedhof, den auch Juden aus der Umgebung benutzt hatten, lag an einem neu eingerichteten Promenadenweg und sollte verlegt werden. 1832 schloss der Gemeindeälteste Lilienfeld mit den Stadtvertretern einen Kaufvertrag, durch den ein neuer jüdischer Friedhof östlich der Stadt angelegt werden konnte.

 
Bild
 

Mindestens von 1823 bis 1868 bestand in Oldendorf eine jüdische Elementarschule, die unter kirchlicher Aufsicht stand. Ein besonderes Schullokal war nicht vorhanden; der Unterricht fand in den Häusern der Gemeindemitglieder statt, wo auch die Lehrer reihum wohnten. Die Lehrer, zugleich Vorsänger, unterrichteten vier bis neun Kinder. Aufgrund des niedrigen Gehalts wechselten die Lehrer häufig. Nach 1868 gelang es der jüdischen Gemeinde nicht mehr einen Lehrer zu verpflichten, denn das Gehalt, das sie zu zahlen bereit war, war selbst für Lehramtskandidaten zu niedrig. Die Schüler besuchten nun die Stadtschule, erhielten aber ab 1879 Religionsunterricht durch Adolf Rosenbaurn aus Hameln.

Das Handelshaus von Peritz Lilienfeld wurde unter seinen Nachfolgern zum Bankhaus ("Spanier") und später zum Textilgeschäft umgewandelt. In den 1920er Jahren erlosch es. Max Blumenthal betrieb einen blühenden Landhandel, erlangte eine einflussreiche Stellung in der Stadt und amtierte ab 1890 als Gemeindevorsteher. Sein Bruder Bernhard erwarb sich in der holländischen Kolonie Sumatra beträchtlichen Reichtum und wurde nach seiner Rückkehr Fabrikbesitzer im westfälischen Herford. Die anderen Oldendorfer Juden beschäftigten sich zu Beginn des 20. Jh.s überwiegend mit Klein- und Viehhandel.

Die weitere Entwicklung war gekennzeichnet von gefestigter Integration. Viele Männer waren Mitglieder in den bürgerlichen Vereinen; einige im "Kriegerverein", andere im 1903 gegründeten "National-liberalen Verein". Julius Löwenstein leitete den Ortsverein des RjF (sechs Oldendorfer Juden hatten am Ersten Weltkrieg teilgenommen) und zählte zu den Honoratioren des Ortes. Christliche und jüdische Zeitzeugen berichten über unbelastete, gutnachbarschaftliche Verhältnisse. Gleichzeitig lockerten sich die religiösen Bindungen: Die jüngere Generation und selbst der Gemeindevorsteher aßen angeblich regelmäßig Schweinefleisch. In den 1920er Jahren bestand kein Betraum mehr; die Gläubigen besuchten die Hamelner Synagoge.

 
Bild
 

Die NS-Zeit

1933 lebten 21 Juden in der Stadt. Sofort nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde neben den Sozialdemokraten und Kommunisten auch der (parteilose) Viehhändler Adolf Löwenstein in wochenlange Haft genommen. Während des Boykotts der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 wurden bei zwei jüdischen Geschäften die Schaufenster beschmiert. 1935 inszenierte der Lehrer Carlowitz mit nachweislich unwahren Behauptungen eine Kundgebung auf dem Marktplatz wegen einer angeblichen "Rassenschändung" im Haus des Viehhändlers Löwenstein. Aufgewiegelte Einwohner brachen das Haus auf, verwüsteten die Einrichtung und zwangen die Familie zum vorläufigen Verlassen der Stadt. Beim Viehhändler Blumenthal wurden mehrfach Fensterscheiben eingeworfen. Im August 1935 verbot der Stadtrat den kommunalen Bediensteten jeden Umgang mit Juden, sperrte den städtischen Viehmarkt für jüdische Viehhändler und untersagte allen Juden die Benutzung der Badeanstalt.

In der Nacht zum 10. November 1938 stürmten ortsansässige SS-Angehörige und Zivilisten die Viehhandlung Löwenstein, verwüsteten die Einrichtung, begingen Plünderungen und misshandelten die Ehefrau und ihren Schwager. Bald darauf emigrierte die Familie Löwenstein in die USA; das Ehepaar David Blumenthal flüchtete nach Bielefeld. Drei Jugendliche fanden Aufnahme in England bzw. den USA. Alle anderen Oldendorfer Juden – sowohl die in der Stadt verbliebenen, als auch die innerhalb Deutschlands verzogenen – fielen zwischen Oktober 1941 und Juli 1942 den Deportationen zum Opfer. Ihre Spuren verlieren sich in Theresienstadt, Riga, Minsk und Lodz. Es handelte sich um David und Lina Blumenthal, Julius und Rosa Blumenthal, Louis, Jenny und Martha Blumenthal, Julie Blumenthal und Berta und Minna Rosenthal.

 
Bild
 

Nach 1945

Lieselotte Southam, die 1939 nach England emigrierte Tochter von David und Lina Blumenthal, besuchte ab 1958 mehrfach ihren Geburtsort. 1994 berichtete sie sehr ausführlich über das gesellschaftliche Zusammenleben in Hessisch Oldendorf vor 1933 und über das zunehmend aggressive Auftreten der zahlreichen Nationalsozialisten. 1988 wurde auf dem Gelände des alten jüdischen Friedhofs ein Gedenkstein errichtet; Grabsteine sind dort heute nicht mehr vorhanden. Der 1832 neu angelegte jüdische Friedhof mit einer Größe von 482 qm liegt an der Bollwegstrift. Er befindet sich im Eigentum des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und wird von der Stadt gepflegt. Instandsetzungen gab es 1958 und 1986. Der Ortsrat lehnte 1996 die Benennung einer Straße in Nathan-Lilienfeld-Straße ab.

 
Bild
 

Die Namen der Opfer

 

David Blumenthal

wurde am 23. Februar 1877 in Hessisch Oldendorf geboren. Er wohnte in Bielefeld, wurde aus Bielefeld nach Theresienstadt verschleppt und starb dort am 10. Juli 1942.

 

Jenny Blumenthal, geb. Hecht

wurde am 20. Oktober 1874 in Bad Salzuflen geboren. Sie wohnte in Hessisch Oldendorf. 1942 wurde sie mit unbekanntem Ziel deportiert und ist verschollen.

 

Julchen Blumenthal, geb. Sternberg

wurde am 13. März (oder 11. Oktober) 1866 in Erwitte geboren. Sie wohnte in Wuppertal. Am 21. Juli 1942 wurde sie aus Düsseldorf nach Theresienstadt deportiert und von dort am 21. September nach Treblinka verschleppt. 

 

Julius Blumenthal

wurde am 11. Juni 1887 in Hessisch Oldendorf geboren. Er wohnte in Hessisch Oldendorf. Er wurde am 15. Dezember 1941 aus Hannover nach Riga verschleppt und ist dort verschollen.

 

Lina Blumenthal, geb. Gruenewald

wurde am 13. 8. 1879 in Nieheim geboren. Sie wohnte in Bielefeld. Von dort wurde sie 1942 verschleppt und gilt als verschollen.

 

Louis Blumenthal

wurde am 25. Februar 1875 in Hessisch Oldendorf geboren. 1942 wurde er mit unbekanntem Ziel deportiert und ist verschollen. 

 

Martha Blumenthal

wurde am 13. März 1914 in Warburg geboren. Sie lebte in Hessisch Oldendorf. Sie wurde mit unbekanntem Ziel deportiert und ist verschollen. 

Rosa Blumenthal, geb. Pinkus

wurde am 8. Oktober 1889 in Märkisch Friedland geboren. Sie wohnte in Hannover. Aus Hannover wurde sie am 15. Dezember 1941 nach Riga verschleppt und ist dort verschollen.

 

Rosa Dreifuss, geb. Blumenthal

wurde am 15. Juni 1884 in Hessisch Oldendorf geboren. Sie ist verschollen.

 

Emma Herzfeld, geb. Blumenthal

wurde am 22. April 1860 in Hessisch Oldendorf geboren. Sie lebte später in Hannover. Ihr letzter Wohnort war Berlin Charlottenburg, Mommsenstraße 39. Am 11. 9. 1942 wurde sie aus Berlin nach Theresienstadt verschleppt. Von dort wurde sie am 29. 9. 1942
nach Treblinka deportiert. Dort ist sie verschollen.

 

Bertha Rosenthal

wurde am 19. März 1872 in Schwerte geboren. Sie wohnte in Emden. Von dort wurde sie nach Lodz verschleppt und ist dort verschollen. 

 

Minna Rosenthal

wurde am 30. Juli 1866 geboren. Sie wohnte in Emden. Von dort wurde sie nach Lodz verschleppt und starb dort am 12. November 1941. 


Ida Scheiberg, geb. Blumenthal

wurde am 25. (oder 23.) Juni 1866 in Hessisch Oldendorf geboren. Aus Hannover wurde sie am 24. 7. 1942 nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurde sie am 23. 9. 1942 nach Treblinka verschleppt. Sie ist dort verschollen.

 

Siegmund Stern

wurde am 14. Juni 1878 geboren. Er wohnte in Hessisch Oldendorf und später in Rehburg. Siegmund Stern wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und ist dort verschollen.

 
Bild
 

Politische und religiöse Zugehörigkeit der Gemeinde

Grafschaft Schaumburg bis 1640; Landgrafschaft Hessen-Kassel 1640/48-1807, Königreich Westfalen 1807-1813, Landgrafschaft Hessen-Kassel 1813-1866, preußische Provinz Hessen-Nassau 1866-1932, preußische Provinz Hannover 1932-1945; Regierungsbezirk Kassel 1867-1932, Regierungsbezirk Hannover 1932-1945; Kreis Rinteln bis 1905, Kreis Grafschaft Schaumburg 1905-1945; heute: Regierungsbezirk Hannover, Landkreis Hameln-Pyrmont.

Synagogengemeinde im Landrabbinat Kassel, Rabbinatsbezirk Niederhessen (später: Kassel), angeschlossene Orte: Deckbergen, Fischbeck, Großenwieden, Hattendorf.

 
Bild
 

Gesamteinwohnerzahl / darunter Juden

Hess. Oldendorf: 1861: 1.324/30; 1871: 1.343/48; 1885: 1.630/31; 1895: 1.679/30; 1905: 1.941/26; 1925: 2.070/24; 1939: 2.494/7.   Hattendorf: 1885: 466/10; 1925: 393/5.

 
Bild
 

Literatur

Hoffmann, Erik: Jüdische Nachbarn in Hessisch Oldendorf. 1322 bis 1942. Ihre 600jährige Geschichte in der schaumburgischen/hessischen/preußischen Kleinstadt, Hameln 1998

 
Bild