Zur Geschichte der Juden in Hameln
und in der Umgebung
Der Kibbuz Cheruth
Zur Geschichte und Bedeutung des Kibbuz Cheruth
Die Anfänge des Kibbuz Cheruth liegen im Dunkel. Wir wissen nur einige wenige isolierte Daten. Im Juli 1923 findet der Bundestag des Brit Haolim auf dem Ohrberg in Hameln mit Abgesandten aus Israel (Kibbuz Ein Charod) statt. Der Brit Haolim (Bund der Aufsteigenden) erstrebte die Synthese von Religion und Sozialismus und suchte die Verbindung mit der Arbeiterschaft in Deutschland und Palästina.
"Zionismus ist uns die Aufrichtung einer Gesellschaft von Juden auf der Grundlage der Arbeit, ohne Ausbeuter und Ausgebeutete, einer Arbeitergesellschaft, in der es keine Klassenscheidungen gibt" (Rundschreiben des jung-jüdischen Wanderbunds vom 14. 9. 1925, bei Reinharz, S. 359).
Der 1920 gegründete vergleichsweise sehr kleine jung-jüdische Wanderbund vertrat das Prinzip der Selbstarbeit (ohne Ausbeuter und Ausgebeutete), suchte das Bündnis mit den Arbeitern in Palästina und wollte die Rückbesinnung auf die jüdische Religion, wie sie noch im Ostjudentum gelebt wurde. Innerhalb des jung-jüdischen Wanderbundes gab es den Chaluz (Pionier) -Flügel Brit Haolim, der 1923 gegründet worden war. Der Brit Haolim hatte als praktisches Ziel die Erziehung zum Kibbuz. Konsequent forderte der Brit Haolim, dass jeder fertig ausgebildete junge Zionist nach Palästina auswandern müsse. Auch nach der Auswanderung wollte man zusammenleben, um dann in der Arbeiterschaft Palästinas aufzugehen. Die konsequente Auswanderung der Pioniere bedeutete jedes mal einen gewaltigen Aderlass für den kleinen jüdischen Jugendbund.
Im Dezember 1925 gründet der Brit Haolim dann das "Zentrum Hameln" mit 90 Pionieren. Auf verschiedenen Bauernstellen in der Umgebung von Hameln bereiten diese sich auf ihre Auswanderung nach Palästina vor.
Die Gründung des Kibbuz Cheruth findet wenige Monate später statt. Im Sommer 1926 wird auf einem Treffen in der Nähe von Pyrmont nach der gemeinsamen Lektüre einer Rede von Martin Buber mit dem Titel "Cheruth" (Freiheit) die Gründung eines Kibbuz beschlossen. Das "Zentrum Hameln" organisiert sich als Kibbuz, und Bubers Rede über Jugend und Religion aus dem Jahre 1918 gab ihm den Namen. Die Gründung eines Kibbuz war insofern eine Neuerung gegenüber dem Hachschara-Zentrum Hameln, als die Chaluzim nicht, wie bisher üblich, in Einzelstellen arbeiteten, sondern versuchten, ein gemeinsames Ausbildungszentrum zu bilden und ein Gemeinschaftsleben zu führen, das später als Sprungbrett für die Einwanderung nach Palästina dienen sollte. Der Gründungsaufruf ist unterzeichnet von Hermann Gradnauer (1894 - 1972), Mosche Brachmann (geb. 1902) und Alfred van der Walde (1905 - 1930).
Die Gründe für die Aktivitäten des Brit Haolim in Hameln und die Ansiedlung des Kibbuz Cheruth in den Dörfern zwischen Hameln und Pyrmont sind offensichtlich in der Person von Hermann Gradnauer (1894 - 1972) zu suchen. Gradnauer war Zahnarzt in Hameln und einer der ganz wenigen wirklichen Zionisten in der sehr konservativen Hamelner jüdischen Gemeinde. Er gehörte zu den Gründern des Brit Haolim und war auch einer der Führer des jung-jüdischen Wanderbundes. Gradnauer hält in Hameln öffentliche Vorträge über die Kibbuzbewegung in Palästina, die er von eigenen Reisen her kennt (DEWEZET 25. 1. 1926). Ende der zwanziger Jahre gibt er seine Zahnarztpraxis am Kastanienwall endgültig auf und lässt er sich in Palästina, im Kibbuz Givat Brenner, nieder.
Gradnauer soll die Bauern, wenn sie auf seinem Zahnarztstuhl saßen, überredet haben, einen jungen Juden oder eine junge Jüdin als Praktikanten aufzunehmen. Seiner Frau gestattete der konsequente Zionist nur den Besitz von zwei Kochtöpfen.
Die Gründung des jungen Kibbuz fällt in eine Zeit, in der die Auswanderung nach Palästina, das damals unter britischem Mandat stand, außerordentlich schwierig geworden war. "Wir werden zur Ansiedlung kommen, trotz der Alijahsperre der englischen Regierung, trotz der Verzweiflungs- und Liquidationsstimmung der Zurückkehrenden." Im Jahre 1926 war ein Ansiedlungsversuch der bedeutenden zionistischen Jugendbewegung "Blau-Weiß" gescheitert. Ein großer Teil der Siedler kehrte nach Deutschland zurück. Die deutschen Siedler, überwiegend qualifizierte Facharbeiter, galten bei den zumeist aus Osteuropa stammenden Zionisten als arrogant, gingen sie doch lieber in die Städte als in die Kibbuzim und wollten privatwirtschaftliche Formen verwirklichen.
Der Anteil der deutschen Juden an den Einwanderern in Palästina war bis zum Beginn von Hitlers Herrschaft verschwindend gering. Im deutschen Zionismus wurde damals sogar diskutiert, ob die westjüdische Jugend Deutschlands überhaupt zur Mitwirkung am Aufbauwerk Palästinas geeignet sei. Die überwiegende Meinung der deutschen Juden war, dass der ostjüdisch geprägte Zionismus die in Deutschland erfolgreich abgeschlossene Assimilation gefährde und deswegen abzulehnen sei. Der offizielle deutsche Zionismus wollte damals das gesamte Hachschara-Werk beenden und angesichts der Krise und der Arbeitslosigkeit in Palästina die Auswanderung aus Palästina organisieren!
Auf diesem Hintergrund ist die Gründung des Kibbuz Cheruth eine Trotzhandlung gegen die allgemein herrschende Meinung im zionistischen deutschen Judentum. Sie geschieht in einer Zeit, als sich die gesamte Bewegung aufzulösen scheint. Während in Palästina eine Wirtschaftskrise sich abzeichnet, unter der arabischen Bevölkerung eine zunehmende Beunruhigung wegen der zionistischen Einwanderung sich Geltung verschafft und Prophezeiungen von einer zehnjährigen Alijahsperre durch die Engländer die Runde machen, beginnen in Deutschland die sog. Goldenen Jahre der Weimarer Republik. Unter den jungen Juden nehmen unpolitische Jugendgruppen in dieser Zeit zu. Wer wollte da an Auswanderung denken?
Als sich am 1. November 1926 dann der Kibbuz konstituierte, waren von den 90 Pionieren des Zentrums Hameln nur 15 geblieben. Die Anfänge des Kibbuz waren außerordentlich beschwerlich. Doch es gelang, den Kibbuz Cheruth zu konsolidieren. Bereits Ende 1928 kam es nach Aufhebung der strikten Einwanderungssperre in Palästina zur ersten Alijah aus Hameln. 34 Chawerim gingen zunächst nach Rechowoth, 1930 in den Kibbuz Givat Brenner. Die Auswanderung als geschlossene Gruppe gelang. Die Gruppe blieb in Givat Brenner zusammen und hielt auch stets die Verbindung mit Griessem, dem eigentlichen Zentrum des Kibbuz Cheruth. Sie verstand sich als Vortrupp für die, die noch kommen würden.
"Als Cheruth kam, hatten die wenigen Chawerim aus Deutschland in Palästina das Gefühl der Befreiung von einer Schande, der Schande, die in der Ansicht enthalten war, der deutsche Oleh hätte keine Zukunft im Leben des Kibbuz."
Der Kibbuz Cheruth wird zum Lieblingskind des Hechaluz (der Auslandsorganisation der Kibbuzim). Auch der viel größere Jugendbund Blau-Weiß schickt Praktikanten nach Hameln. Es gibt Tagungen mit Kibbuzniks aus Wolfenbüttel und Berlin. In Wolfenbüttel werden Gärtner ausgebildet, in Berlin Handwerker.
Im Frühjahr 1930 folgt die zweite Alijah aus Hameln. 90 Chawerim aus Hameln gehen in den Kibbuz Givat Brenner.
1930 oder 1931 ist die Geschichte des Kibbuz Cheruth bereits beendet. Über das Ende ist nichts bekannt. Die beginnende Weltwirtschaftskrise mit der hohen Arbeitslosigkeit und dem nun offen aufbrechenden Antisemitismus mögen dem Fortbestehen des Kibbuz im Wege gestanden haben. Gewiss ist auch die Auswanderung von Hermann Gradnauer, die in diese Zeit fällt, für das Ende des Kibbuz verantwortlich.
Trotz der kurzen Zeit seines Bestehens ist der Kibbuz Cheruth außerordentlich bedeutsam. Er ist eine Voraussetzung der deutschen Alijah, der sog. Jugendalijah, die in den Jahren 1933 bis 1939 7000 Pionieren aus Deutschland die Aufnahme in Palästina ermöglicht. Das Einwanderungszertifikat bekam nur, wer sich auf einer Hachscharah bewährt hatte.
"Wie hätten wir die neue Massenalijah aufnehmen können, die nach 1933 zu uns kam, wenn wir nicht durch den Kibbuz Cheruth jene Grundlagen geschaffen hätten, die die Möglichkeiten gaben, die deutsche Alijah zur größten Alijah im Kibbuz zu machen."
Die Jugendlichen nahmen damals die Anzeichen des Antisemitismus wahr, während ihre Eltern sich in trügerischer Sicherheit wiegten.