Zur Geschichte der Juden in Hameln
und in der Umgebung
Der Kibbuz Cheruth
Das Leben im Kibbuz Cheruth
Über die schwierigen Anfänge hören wir von Alfred van der Walde, einem Gründungsmitglied (Pessach 1927):
"Pessach 1927 in Griessem war ein entscheidender Einschnitt im Leben jedes Einzelnen von uns, denn der Kibbuz war für uns eine persönliche Entscheidung.
Was geschah damals? Im Spiegelbild des nüchternen Tages: dreißig bis vierzig junge Menschen diskutierten zwei Tage und Nächte, stritten sich, sangen und tanzten, schlossen persönliche Bindungen, verkrachten sich - und standen am übernächsten Tag wieder jeder an seinem Arbeitsplatz, am Pflug, hinter der Drillmaschine, mit dem Spaten in der Hand oder in Meiers Küche. Nichts Erschütterndes! Und worum ging es uns damals?
Vom neugeschaffenen Kibbuz Cheruth im Sommer 1926 waren Anfang des Jahres 1927 nur 14 - bis 15 Chawerim übrig geblieben. Ein Grüppchen Besessener. Ein schwerer, trüber Winter und doch der entscheidende des Kibbuz. Von schweren Geburtswehen begleitet wurde im Winter 1926/27 der Kibbuz geboren. Alle Hoffnungen waren auf den Frühling gesetzt. Und zu Pessach 1927 in Griessem, im kalten Gasthaus, am Bergabhang, überwand der junge Kibbuz, der gerade das Laufen gelernt hatte, seine erste schwere Kinderkrankheit. Jetzt weiß ich, daß wir damals nicht das Gefühl hatten, Wegbereiter des deutschen Chaluz zu sein. Man stritt und rang, war ausgelassen froh, der Himmel war blau und der Frühling zum Sichverlieben. Und doch war die heiße Debatte in der kalten, dunklen Scheune in der Griessemschen Gastwirtschaft unser erster Schritt auf dem Weg. Damals schufen wir für den Bund die Brücke ins Land, eine schwankende Brücke noch, aber doch schon den Weg anzeigend, den Zufall und Gesetzmäßigkeit, Wunsch und Erkenntnis uns gehen ließen."
Im Kibbuz Cheruth lebten später zeitweise über 90 "Pioniere". Die jungen Zionisten, die im Schnitt 18 bis 20 Jahre alt waren, stammten häufig aus gutbürgerlichen assimilierten jüdischen Familien. Viele hatten eine höhere Schulbildung und vollzogen nun eine deutliche Trennung gegenüber ihren assimilierten Elternhäusern. Es gab dramatische Rückholversuche der Eltern. Die Mitglieder des Kibbuz kamen aus ganz Deutschland; viele darüber hinaus aus Polen, Litauen und anderen osteuropäischen Ländern, in denen der Zionismus viel stärker eingewurzelt war als im deutschen Judentum.
Die Auswertung des Melderegisters des Einwohnermeldeamtes des Flecken Aerzen ergibt für Aerzen: In den Jahren 1924 - 1930 gibt es insgesamt 76 An- und Abmeldungen von jungen Mitgliedern des Kibbuz Cheruth. Den Schwerpunkt bei der Unterbringung bilden die Bauernhäuser Nr. 18 (Meier, Osterstraße 35) und Haus Nr. 22 (Reitemeier, Osterstraße 43). Fast die Hälfte der Mitglieder stammt aus dem Ostjudentum mit dem Schwerpunkt Polen. Von den deutschen Kibbuzniks kommen viele aus Großstädten wie Berlin.
Der Kibbuz Cheruth verband religiöse mit sozialistischen Ideen. "In den Ideologien jüdischer Sozialisten leben uralte messianische Träume fort" (bei Goral, Martin Buber, S. 23). Martin Bubers Entdeckung des Ostjudentums bestimmte die religiöse Orientierung. Die Pioniere wollten zurück zu den religiösen Wurzeln und lehnten die laue Religiosität ihrer Eltern ab.
Das Leben in Palästina wollten sie im Bündnis mit der dort lebenden Arbeiterschaft realisieren. Im Gründungsaufruf des Kibbuz findet sich der Satz: "Für uns ist die Chaluzbewegung eine Nachwuchsbewegung für die palästinensische Arbeiterschaft, die nach unserer Auffassung als der wesentlich schöpferische Faktor im Lande der verantwortliche Träger des Aufbaues ist!" In der Regel wurde schon in Deutschland von den Mitgliedern des Kibbuz eine gewerkschaftliche Orientierung verlangt. In Hameln gab es Kontakte zur SAP und zur KPD.
Die Verbindung jüdischer und sozialistischer Ideen verlieh den jungen Leuten ein fast messianisches Selbstbewusstsein. Im Bewusstsein, zum richtigen Leben zurückgefunden zu haben, kritisierten sie ihre Elternhäuser außerordentlich hart.
Frau Bauer, Tochter des Bauern Knoke in Griessem (Jahrgang 1905):
"Der jüdische Getreidehändler William Herzberg aus Aerzen stellte den Zionisten immer wieder die Frage: Weshalb wollt ihr bloß nach Palästina?! Er hielt ihre Absichten für undurchführbar. Aber die Jugendlichen ließen sich nicht beirren. Sie waren unglaublich entschlossen. Sie ließen sich auch nicht von ihren Eltern zurückholen. Die waren oft überhaupt nicht einverstanden mit den Vorstellungen ihrer Kinder. Es gab richtige Familientragödien, wenn die Eltern angereist kamen, um ihre Kinder von den Plänen in Palästina abzubringen und sie nach Hause zurückzuholen. Manche der Jugendlichen waren von zu Hause ausgekniffen, und die Eltern brachten erste durch Nachforschungen ihre Adresse in Erfahrung."
Das Verhältnis zu Buber hat sich übrigens negativ entwickelt. Obwohl eingeladen kommt Buber nicht nach Hameln. Vor allem wird ihm übel genommen, daß er nicht die Konsequenz zieht, nach Palästina zu gehen, sondern in Deutschland bleibt.
Im Kibbuz Cheruth wollten sich die jungen Männer und Frauen auf das Leben in Palästina vorbereiten. Tagsüber arbeiteten sie als Knechte und Mägde bei den Bauern der Dörfer um Aerzen. Sie wollten nicht Fachleute für Landwirtschaft werden, sondern bewusst die ganz einfachen Arbeiten machen.
Goral:
"Viele von uns waren Pferdeknechte - auch ich war es längere Zeit - und schliefen im Pferdestall. Das bedeutete, daß wir in Zeiten der Hochsaison, wenn gepflügt wurde oder Erntezeit war, dafür verantwortlich waren, daß die Pferde rechtzeitig angefüttert und gestriegelt und gebürstet wurden, d.h. unser Arbeitstag begann dann zwischen 3 und 4 Uhr. Zwölfstündige Arbeitstage waren keine Ausnahme, sondern die Regel."
Die jungen Leute lebten verstreut auf unterschiedlichen Höfen in den Dörfern Aerzen, Griessem, Holzhausen, Schwöbber und Lügde u.a. Das gemeinsame Arbeiten und Wohnen konnte - wenn auch nur zum Teil - verwirklicht werden. Beim Bauern Knoke in Griessem gelang es, wenigstens teilweise das Gemeinschaftsleben im Kibbuz vorwegzunehmen. Hier lebte eine größere Gruppe von Jungen und Mädchen zusammen und traf sich abends im sog. Polenhaus.
Frau Bauer, Tochter des Bauern Knoke in Griessem (Jahrgang 1905):
"Wir hatten meistens gleichzeitig vier Mädchen und sechs bis sieben Jungen auf dem Hof. Die blieben ein halbes Jahr oder ein Jahr und gingen dann auf eine Landbauschule. Die meisten waren 18 bis 20 Jahre alt. Oft hatten sie gerade Abitur gemacht, wenn sie kamen. Sie stellten keine Ansprüche. Auch nicht mit dem Essen. Es musste nicht koscher sein."
Die jungen Zionisten in den benachbarten Ortschaften hatten trotz ihrer Lernwilligkeit oft Schwierigkeiten bei den hiesigen Bauern. Die empfanden deren sozialen und intellektuelle Überlegenheit. Aber die Praktikanten fügten sich, so gut es ging.
"Sie waren sehr arbeitswillig, taten alles, was anfiel. Sie konnten ja zunächst nichts in der Landwirtschaft. Sie kamen meistens aus größeren Städten und aus gutsituierten bürgerlichen Familien. Sie mussten alles erst lernen. Aber sie lernten mit starker Entschlossenheit. Und sie verstanden sich sehr gut mit den anderen Arbeitern auf dem Hof. Sie trugen bei der Arbeit ihr Wahrzeichen: das blaue Tuch."
Das Polenhaus war der wichtigste Platz auf dem Hof für die jüdischen Praktikanten. Hier lernten sie abends hebräisch; hier machten sie oft ihre Sabbatfeiern; hier wurde getanzt und gesungen. Oft kamen die jüdischen Praktikanten aus den Nachbardörfern hinzu.
Für alle Kibbuzniks gab es eine gemeinsame Kasse, in die der geringe Lohn eingezahlt werden musste. Aus dieser Kasse wurde unter anderem der Lehrer bezahlt. Weiter existierte eine Kleiderkammer und eine Bibliothek.
Zu einem Bauern in Aerzen entwickelte sich ein besonderes Verhältnis.
"Es war der Bauer Meier in Aerzen und dessen Mutter. Wir waren auf ihrem Hof wie Zuhause. Es lag wohl auch daran, daß unser Chawer Kurt Maier aus Köln, ein phantastischer Arbeiter, den Hof bestellte. Ich will nicht sagen, daß er den ganzen Hof schmiss, aber der Bauer ließ ihn schalten und walten. Kurt war wahrscheinlich der beste Arbeiter unter uns. In der Küche des Hauses fanden unsere abendlichen Treffen statt. Im übertragenen Sinne wurde die Küche zur Jeschiwa" (Goral, Martin Buber, S. 24f).
Abends und am Wochenende lernten die jungen Leute hebräisch und übten sich in der Religion ihrer Väter. Auf die harte körperliche Arbeit folgte am Abend und an den Wochenenden die sog. Kulturarbeit, strenge geistige Arbeit. Aus der gemeinsamen Kasse wird ein Hebräischlehrer bezahlt, der nun wie die alten jüdischen Lehrer herumzieht. Es gibt Vorträge über die Ziele der Kibbuzbewegung; die in Vergessenheit geratenen religiösen Feste werden gefeiert. An den Wochenenden traf man sich auf der Jugendburg bei Hameln, der sog. Riepenburg.
Der Lehrer Dow Stok:
"Die Anfänge von Cheruth habe ich nicht kennen gelernt. Als ich ins abgelegene Dorf Aerzen kam, um Iwrithlehrer bei der Hachscharapluga (Pluga=Gruppe) zu sein ..., war Cheruth zwei Jahre alt.
In meinen Augen war Cheruth wie ein Wunder. Das große Zionistenhaus in der Meineckestraße in Berlin enthielt schon damals viele Ämter und Institutionen. Sogar eine Ecke für den Hechaluz (die Auslandsorganisation des Kibbuz) hatte sich finden lassen. Naturgemäß oben unterm Dach. ...
Der Zionismus war liebenswürdig und angesehen - aber man war ganz sicher, dass die Auslegung des Zionismus als wirkliches Gepäckpacken und Herübergehen eine Auslegung der Übertreiber wäre. ... Cheruth war ein einzigartiges Wunder, was dieses feine seismographische Gefühl anbetrifft, das den Zusammenbruch sechs Jahre im Voraus spürte. ...
Abends kamen die Chawerim der Hachscharah im Hause des Bauern Heinrich Meyer zusammen und lasen Buchstabe für Buchstabe mit großer Anstrengung etwas Iwrith. Die Augen waren müde nach schwerer Arbeit und grober Kost, in Erwartung der Nachtruhe auf dem Strohboden oder im Stall. Da pflegte die Hauswirtin, eine umfangreiche Witwe, deren Niesen die Luft des Zimmers erschütterte, staunend den Kopf zu schütteln und zu fragen: 'Was haben sie eigentlich die ganze Quälerei nötig?' Gemeint war die schwere Arbeit, die schlechte und mangelhafte Kost, die Müdigkeit, die Last der Erlernung einer fremden und fernen Sprache. Dieses Kopfschütteln begleitete Cheruth ständig. Eltern, Bekannte, jeder vernünftige, normale Mensch schüttelte den Kopf. ... Heute wissen alle, dass diese wenigen Jungen und Mädchen den großen und einzigen Spürsinn für die Wirklichkeit hatten."