Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit
und in der Nachkriegszeit
Das Zuchthaus Hameln in der NS-Zeit
Die letzten Monate des Zuchthauses
Der Mordbefehl: Zur Vorgeschichte des Todesmarsches
Gegen Ende des Monats Januar 1945 gab das NS-Justizministerium Richtlinien darüber heraus, was mit den Häftlingen in den frontnahen Zuchthäusern passieren sollte. In diesen Richtlinien wurde u. a. bestimmt, dass Häftlinge, die zu leichten Strafen verurteilt waren, freigelassen werden sollten.
Für die Freilassung kämen aber nicht in Betracht Schwerverbrecher, "Nacht- und Nebel"-Häftlinge (Widerstandskämpfer aus den besetzten Gebieten), Juden und Zigeuner. Die Gefangenen dieser Gruppen sollten in Zuchthäusern im noch nicht geräumten Teil Deutschlands untergebracht werden.
Was aber, wenn dazu die Zeit oder die Transportmittel fehlten? In diesem Falle sollten die Häftlinge der Polizei zur Liquidation übergeben werden oder, wenn das nicht möglich wäre, sollte Wachpersonal die Männer durch Erschießen unschädlich machen. Die Spuren der Tat sollten sorgfältig beseitigt werden.
Dies war ein Auftrag zum Mord. Das musste auch den Direktoren der Zuchthäuser, die diese Richtlinien erhielten, deutlich gewesen sein.
In Hameln sind die Ereignisse, die zum Todesmarsch vom Zuchthaus Hameln zum Außenlager Holzen führten, noch genau zu rekonstruieren.
Am 31. März setzte Gauleiter Lauterbacher aus Hannover Josef Krämer als kommissarischen Kreisleiter ein. Krämer sollte die Stadt wegen des Näherrückens der Front in Verteidigungszustand setzen. Krämer erhielt dabei den Befehl, alle Schwerverbrecher und die ausländischen Häftlinge des Zuchthauses zu evakuieren, die leichteren Fälle jedoch freizulassen.
Der Direktor des Zuchthauses Stöhr hatte denselben Befehl zur Evakuierung inzwischen auch von seinem vorgesetzten Generalstaatsanwalt in Celle erhalten. Es setzte eine intensive Suche nach Transportmitteln also Lastwagen ein.
Am 3. April war klar, dass Lastwagen nicht aufzutreiben waren. Daraufhin erteilte Lauterbacher Krämer den Befehl, die genannten Häftlinge (400 Personen) zu töten.
Am 4. April gab es zahlreiche Telefonate zwischen Krämer und Stöhr. Stöhr verweigerte Krämer gegenüber die Erschießung der Häftlinge. Für die Erschießung von 400 Männern hätte er zu wenig Männer, Munition und Waffen. Er verlangte von Krämer die Vorlage schriftlicher Befehle, was Krämer aber verweigerte. Später verlangte Krämer, die Häftlinge durch eine vergiftete Suppe zu ermorden, und drohte Stöhr damit, ihn erschießen zu lassen.
Am 5. April wurden früh morgens die Hamelner Weserbrücken von Wehrmachtspionieren gesprengt. Die Stadt Hameln war in Verteidigungszustand versetzt. Die Beschießung der Stadt durch die Amerikaner begann.
Stöhr teilte Krämer an diesem Tage mit, es wäre unmöglich ausreichend Gift zu beschaffen. Er hätte deshalb die Häftlinge zu Fuß in Marsch gesetzt, um sie nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen.
Stöhr hat in der Auseinandersetzung mit Krämer zunächst auf Zeit gesetzt, hinhaltend reagiert. Er hat schließlich eigenmächtig entschieden, die gefährdeten Häftlinge in Marsch zu setzen und sie Krämer auf diese Weise zu entziehen. Das war ein mutiger Entschluss, der Respekt verdient. Der Kreisleiter hatte ihn mit dem Leben bedroht.
Gleichzeitig ist aber auch klar, dass Stöhr wenig Neigung haben konnte, sich wenige Tage vor dem sicheren Einmarsch der Alliierten mit der Verantwortung für einen Massenmord zu belasten. Er handelte nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern wollte auch die eigene Haut retten.
Quellen
Dr. L. de Jong (Hrsg.), Het Koninkrijk Der Nederlanden in de Tweede Wereldoorlog (Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie), Band 10b 2. Hälfte, S. 1141-1145
Public Record Office London
Bernhard Gelderblom, Mordbefehl und Todesmarsch – Das Hamelner Zuchthaus in den Jahren 1944-1945, In Detlef Creydt, Zwangsarbeit Band 4, S. 165-212