Herr Gelderblom, wo sind Sie aufgewachsen und wie entstand bei Ihnen der Wunsch, Geschichte, Theologie und Politik zu studieren und Lehrer zu werden?
Gelderblom: Ich bin geboren in Schwetz an der Weichsel
in Westpreußen. In diesem Gebiet, das bis 1939 polnisch war, war mein Vater
als deutscher Beamter tätig, um das Land sozusagen zu "germanisieren". Mein
Vater war von den Zielen und Idealen der Nationalsozialisten überzeugt.
Nach dem Krieg herrschte bei uns zu Hause Schweigen über diese Zeit. Auch
in dem Gymnasium, das ich als Schüler besuchte, war das III. Reich kein
Thema. Erst der Film "Nacht und Nebel", den ich als Jugendlicher in einer
anderen Schule sehen konnte, öffnete mir für diese Zeit die Augen und ich
begann, nachzufragen.
Ich bin 1943 geboren und empfinde mich als Kriegskind.
Obwohl ich mich an die Kriegszeit nicht bewusst erinnere, hat mich doch
die elementare Erschütterung dieser Zeit und die Verunsicherung in der Nachkriegszeit
geprägt. Ich empfinde Krieg als größtes Übel, als Zeit der totalen Gesetzlosigkeit.
"Auschwitz darf nie wieder möglich sein" ist für mich zum Lebensmotto geworden.
Nach dem Krieg haben wir in Minden und Herford gelebt.
Studiert habe ich in Münster, Wien, Bonn und Göttingen. Statt einer wissenschaftlichen
Laufbahn habe ich mich ganz bewusst für das Lehramt entschieden und war
froh, 1974 hier in Hameln am Albert-Einstein-Gymnasium eine Stelle zu bekommen.
Dort konnte ich bis 2006 bleiben und bin dankbar, dass ich in all den Jahren
vieles mitgestalten konnte. Ich war immer gerne Lehrer und habe versucht,
Schüler über den "Kunstraum" Schule hinaus zu führen. Dadurch entstanden
eine Reihe von Schülerprojekten im sozialen, politischen und religiösen
Umfeld wie Arbeit mit Jugendlichen in der Jugendanstalt/Tündern oder zur
Situation von Behinderten.
Die Schüler haben mich letztlich auch dazu gebracht, Geschichte
nicht im Elfenbeinturm zu betreiben, sondern dem historischen Geschehen
auf lokaler Ebene nachzuspüren. So ist mir diese "Heimatkunde des III. Reiches"
in den Jahren nach und nach "zugewachsen". Es begann mit der Erschließung
des jüdischen Friedhofes in Hameln und der Umgestaltung der Gedenkstätte
an der Bürenstraße. Arbeiten zur Geschichte des Hamelner Zuchthauses bis
hin zu der Ausstellung über den Bückeberg schlossen sich an.
Als Historiker studieren Sie nicht nur alte Urkunden. Sie sind ein Mensch, der sich in der Gegenwart engagiert. Wie kommt das?
Gelderblom: Grundlage aller Projekte ist natürlich erst einmal gründliche Recherche auch in Archiven. Das ist oft mühsam und langwierig, aber absolut notwendig. Darüber hinaus sind mir Interviews mit Zeitzeugen wichtig geworden. Ich möchte den Namen in alten Dokumenten ein konkretes Gesicht geben.
Im Gegensatz zu Städten haben Dörfer so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Wenn es gelingt, Ergebnisse von Akteneinsicht oder Zeitzeugenbefragungen bei einem Vortrags- und Gesprächsabend den Menschen vor Ort "zurück zu geben", dann ist dies eine große Erfüllung für mich. Ich bin gespannt, wie diesen Herbst die verabredeten drei Abende im Flecken Salzhemmendorf gelingen werden. Die Konfrontation mit der Geschichte eines Dorfes oder einer Stadt kann Erinnerungsarbeit und Trauerarbeit in Gang setzen und Menschen helfen, Erlebtes zu verarbeiten. Das ist mein Anliegen.
Nicht nur in diesen Begegnungen spüre ich, dass
die Ereignisse des III. Reiches bis in unsere Zeit hinein wirksam sind.
Mir sind immer die Menschen wichtig. So ging mein Interesse von den jüdischen
Opfern über zu anderen "Opfergruppen", wie den Zwangsarbeitern und den Häftlingen
des Zuchthauses. Nach vielen vertrauensbildenden Gesprächen, zu denen ich
nach Osteuropa gereist bin, kam es in den Jahren 2005 und 2006 zu den Besuchen
polnischer und ukrainischer Zwangsarbeiter/innen hier in Hameln.
Was war die schönste, was war die schwierigste Begegnung in diesen Projekten?
Gelderblom: Zwei Begegnungen aus dem letzten Jahr fallen mir dazu ein. Die erste: Der Sohn eines Zuchthausinsassen, der das Grab seines Vaters suchte. Der Vater, belgischer Sozialdemokrat, saß als politischer Häftling im Hamelner Zuchthaus ein und starb im April 1945 auf dem elftägigen Todesmarsch von Hameln bis in die Nähe von Rostock. Wir konnten nach langer Recherchearbeit das Grab dieses Mannes in Bad Liebenwerda (zwischen Leipzig und Berlin) finden. Ich fuhr mit dem Sohn dorthin und begleitete ihn zu dem Gedenkstein, den der Ort aufgrund der Recherchen hatte aufstellen lassen. Er sagte hinterher: "Heute habe ich meinen Vater begraben" und konnte Frieden finden. Das hat mich sehr berührt.
Schwer gefallen ist mir die Begleitung einer Frau, deren
Vater hier im Hamelner Zuchthaus 1946 von den Briten als Kriegsverbrecher
gehängt wurde. In der Familie der Frau wurden nur Legenden über den Vater
erzählt, die die Tochter aber nicht zufrieden stellten. Ich konnte herausfinden,
dass ihr Vater in Auschwitz und anderen KZs an den schlimmen Geschehnissen
dort aktiv und führend beteiligt war. Ich habe mit ihr in Hameln die Orte
aufgesucht, an denen Spuren ihres Vaters zu finden sind. Für sie war es
unendlich schwer, die wahre Geschichte ihres Vaters zu akzeptieren. Sie
muss damit nun leben. Ihre Bereitschaft dazu hat mich sehr beeindruckt.
So werden die Kinder der Täter zu Opfern; auch sie haben ein Recht auf Trauer.
Wenn wir uns mit Geschichte beschäftigen, geht es ja nie ausschließlich bloß um Kenntnis der Daten und Fakten der Vergangenheit? Wozu sollen Menschen heute sich mit früheren Zeiten befassen?
Gelderblom: In den Jahren nach dem Krieg waren
die Menschen zu sehr mit ihrer aktuellen Situation beschäftigt, es war keine
Zeit, um die Wunden des III. Reiches aufzuarbeiten und sich damit auseinander
zu setzen. Mir geht es darum, diese Wunden zu heilen. Dieses können wir
nur, wenn wir uns der historischen Wahrheit stellen und nicht nur mit den
Opfern, sondern auch mit den Tätern auseinandersetzen. Wir können aus der
Beschäftigung mit früheren Zeiten lernen, wie Entwicklungen begonnen haben,
als es noch möglich war, das Unheil aufzuhalten. In diesem Sinne plane ich
ein neues Projekt: Informationstafeln an Hamelner Kriegerdenkmälern. Mir
ist es wichtig, die alten Denkmäler in einen historischen Kontext zu stellen,
sie begreifbar zu machen, jedoch ohne frühere Generationen moralisch abzuqualifizieren.
Mit diesem und anderen Projekten möchte ich der Stadt historische Tiefe
geben.
Im Rattenfänger-Jubiläumsjahr finden wir es wichtig, als Gesellschaft, als Kirche den "Rattenfängern" unserer Zeit auf die Spur zu kommen und Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken. Welche Aufgabe haben die Schulen, die Kirche, die Bürgerschaft?
Gelderblom: Sich in die Leiderfahrungen anderer hineinversetzen zu können, Fähigkeit zum Mitgefühl entwickeln zu können, halte ich persönlich für eines der wichtigsten Erziehungsziele. Das können historische oder aktuelle Leiderfahrungen sein. Dabei geht es um Arbeit mit Opfern, mit Tätern, aber auch mit den Menschen, die im III. Reich nur "Zuschauer" waren. Auch die evangelische Kirche in Deutschland hat Leid zugelassen. Die Reichspogromnacht am 9. November 1938 war z.B. den Kirchenvorstandsprotokollen des Hamelner Münster keine Erwähnung wert.
Zum Thema "Rattenfänger": Am "Bückeberg" kann man hervorragend
zeigen, wie die Menschen damals den "Rattenfängern des NS-Reiches" auf den
Leim gingen. Diese Veranstaltung hatte religiöse Dimensionen, man "pilgerte"
dorthin, es erschien der "Heilsbringer". Hier kann man deutlich machen,
wie die Einstimmung auf Krieg und Hass gegen Minderheiten funktionierte.
Die Ausstellung zum "Bückeberg" ist in den vergangenen 10 Jahren an vielen
Orten gezeigt worden. Sie war u.a. am Obersalzberg und wird in Nürnberg
zu sehen sein.
Das Verhältnis von Juden und Christen beschreibt der Apostel Paulus mit dem Satz "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich". Hilft solch ein Satz im heutigen Dialog von Juden, Christen und Muslimen?
Gelderblom: Die Kirche hat diesen Satz allzu
oft in ihrer Geschichte vergessen. Ohne den Jahrtausende alten Antijudaismus
wäre Auschwitz nicht möglich gewesen. Ich empfinde es so, dass wir Christen
in Auschwitz Jesus umgebracht haben. Deshalb ist die Erinnerung an unsere
gemeinsamen Wurzeln so wichtig. Christen und Muslime müssen akzeptieren,
dass sie jüdische Wurzeln haben.
Wenn Sie nicht als Historiker arbeiten, womit befassen Sie sich sonst?
Gelderblom: Ich liebe Reisen in einer Form, wo
man Menschen und Natur nahe kommt. Deswegen fahren meine Frau und ich im
Urlaub gern Fahrrad und sind seit der Grenzöffnung häufig in Osteuropa unterwegs.
Mich fasziniert auch die Wüste und ich wandere gerne. Ein wenig fehlt mir
der Umgang mit Schülern. Deswegen arbeite ich in einem Projekt bei "Impuls",
in dem Jugendliche wichtige Hamelner Häuser, die es heute nicht mehr gibt,
als Modell wieder erstehen lassen. Mit dem alten Rathaus steht ein erstes
Modell auf dem Pferdemarkt.
Was würden Sie der Kreuzkirche in Stammbuch schreiben?
Gelderblom: Kirche muss "Hefe" sein, Prozesse in Gang bringen, die bürgerschaftliches Engagement stärken, durchaus auch einmal falschen Frieden stören. Hier im Klütviertel sehe ich den Generationenumbruch als zentrales Thema. Auch unser heutiges Thema sollte Inhalt kirchlicher Arbeit sein. Ich wünsche mir eine Kirche als Forum für bürgerschaftliche Themen unter dem Motto "Suchet der Stadt Bestes".
Für seine Arbeit ist Bernhard Gelderblom 2008
mit Bundesverdienstkreuz am Bande und 2009 mit dem Obermayer German Jewish
History Award geehrt worden. Wir danken ihm für dieses intensive Gespräch
und wünschen ihm Gottes Segen für seine weitere Arbeit.