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Die Stadt Hameln und ihre Juden
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Der Kibbuz Cheruth in den Dörfern um Aerzen in den Jahren 1926 – 1930

Einführung

 
Ein Mitglied des Kibbuz Cheruth veröffentlichte 1938, als es sich bereits in Palästina befand, anonym Auszüge aus seinem Tagebuch über seine Zeit als Praktikant auf einem Bauernhof in Aerzen.

"Aerzen, 24. Mai 1928
Ich arbeite in der Landwirtschaft. Das war ein tiefer Einschnitt in meinem Leben. Die Idee hat mich dazu gebracht, hat mir diesen Willen eingegeben.

Ich habe den natürlichen Lauf meines Lebens unterbrochen. Ich spüre den Riß. Ich spüre Leere. Es fehlt mir etwas: die Kontinuität meines Lebensgefühles. Ich muß mich erst in diesem vollkommen anderen Leben zurecht finden, ich muß ein Bewußtsein bekommen von ihm.

27. Mai
Es ist schwer, in das Leben des Kibbuz Cheruth einzudringen. Die Menschen lassen mich draußen stehen, ziehen mich nicht hinein, ich muß ganz alleine von mir aus hineinwachsen. Das wird lange Zeit dauern.

Im Kibbuz herrscht immer noch der Kobold Kleinlichkeit, genau wie überall. Man streitet noch darüber, ob irgendwelche 20 Pfennige vom Taschengeld oder von der Gemeinschaftskasse bestritten werden sollen. Man weiß, glaube ich, noch immer nicht, was es bedeutet, im Angesicht der Idee zu leben. Hier werde ich das Schweigen lernen.

Das ganze wahre Verhältnis zur Arbeit können wir hier in der Golah (=Zerstreuung) noch nicht bekommen. Wenn ich von der Arbeit müde bin, wenn ich keine Lust mehr habe zu schaffen, dann sage ich: "Fremde Erde" – und entschuldige meine Faulheit.

Gradnauer soll auf der letzten Pegischah (=Zusammenkunft) gesagt haben:

"Und wenn Ihr noch 10 Jahre auf Alijah (=Aufstieg, Auswanderung nach Erez Israel) warten müßt, dann müßt ihr dennoch durchhalten!"

Oh, man kann es schon, wenn man genügend physische Kräfte dazu hat. Aber was werden die seelischen Folgen dieser Hachscharahzeit (=Vorbereitungszeit) sein?

4. Juni
Jetzt kenne ich ein kleines Stückchen von der Melodie der Arbeit. Heute war die Arbeit sehr, sehr schwer. Die Knochen krachten, der Rücken schmerzte, das Herz schlug heftig, der Atem ging nicht voll und tief, der Brustkorb war wie eingeschnürt. Da spürte ich zum ersten Male tiefe Verantwortung für mein Volk.

Die Erde fordert große Hingabe von uns. Wie gut ist Erdarbeit für die unruhige, zapplige, jüdische Seele! Bei der schweren Arbeit, wenn der Körper schon allzu sehr schmerzt, dann fühlt man mit seinem ganzen Wesen, daß man einer großen Bewegung angehört.

An der Arbeit braucht man und wird man nicht verzweifeln. Bei der Arbeit ist man mit sich allein. Aber schwer ist es, die Beleidigungen: "Du Bengel, Du Schwachhans" zu ertragen. Bei der kleinsten Kleinigkeit wird man so tituliert. Und schließlich ärgert man sich noch über sich selbst, daß man so ungeschickt war."

So viel aus diesem eindrucksvoll formulierten Tagebuch.

Worum handelt es sich bei diesem Kibbuz Cheruth? Was wissen wir über das Leben in dieser Gemeinschaft? Welche Idee war es, die die jungen Menschen dazu gebracht hat, die Last der Arbeit, die Mühen der Umstellung auf ein ganz anderes Leben, die inneren Kämpfe, das Schwanken offenbar bis zum Schluss auf sich zu nehmen? Was überhaupt trieb diese Menschen, Deutschland zu verlassen und nach Palästina auszuwandern und dafür unendliche Mühe auf sich zu nehmen?

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© Bernhard Gelderblom Hameln