Der Grundgedanke des Zionismus, die Gründung einer jüdischen Nation erschien den meisten deutschen Juden als Provokation. Sie waren zutiefst von der Möglichkeit einer deutsch-jüdischen Symbiose überzeugt. Von den ca. 500.000 deutschen Juden waren nur wenige, ca. 20.000, in der "Zionistischen Vereinigung für Deutschland" (ZVfD) organisiert. Aber diese kleine Gruppe der deutschen Zionisten war in sich heterogen; nur ein sehr kleiner Teil wollte wirklich nach Palästina gehen.
Der uns schon bekannte Lehrer der Gruppe, Dov Stok, sagt über die Mehrheit der deutschen Zionisten :
"Der Zionismus war liebenswürdig und angesehen – aber man war ganz sicher, daß die Auslegung des Zionismus als wirkliches Gepäckpacken und Herübergehen eine Auslegung der Übertreiber wäre. ... Der Unterschied zwischen den Zionisten und ihren Gegnern (=aus dem "Centralverein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens") lag nicht in der Illusion selbst, sondern nur im Ausmaße der Illusion."
Der Zionismus der Westjuden war ein Zionismus der dritten Person. Nicht man selbst, sondern andere sollten nach Zion gehen. Die "Zionistische Vereinigung für Deutschland" brachte dafür viel Geld auf.
Es hatte in den 1920er Jahren eine Auswanderung junger deutscher Pioniere nach Palästina gegeben. Die bürgerlich orientierte Jugendorganisation Blau-Weiß hatte nach gründlicher Vorbereitung 1924-25 Werkstätten in Palästina errichtet. Blau-Weiß war aber an den harten Realitäten des Landes gescheitert. Die Pioniere waren nach Deutschland zurückgekehrt.
Wegen der Wirtschaftskrise und der hohen Arbeitslosigkeit in Palästina hatte die britische Mandatsmacht 1925 eine zunächst unbefristete Einwanderungssperre erlassen.
Der Misserfolg von Blau-Weiß und die Prophezeiungen einer möglicherweise zehnjährigen Einwanderungssperre ließen die zionistische Jugendbewegung in Deutschland stagnieren. Die Zweifel in den Jugendbünden nahmen zu, ob westjüdische Jugend überhaupt geeignet sei, am Aufbauwerk in Palästina mitzuwirken. Der deutsche Zionismus sah keine Zukunft für seine Mitarbeit in Palästina. In den "Goldenen Jahren" der Weimarer Republik schienen die Möglichkeiten der Juden in Deutschland unbegrenzt und der Weg der Assimilation ein Erfolgsweg zu sein.
Auf diesem Hintergrund war die Propagierung des Kibbuz Cheruth im Dezember 1926 ein ganz bewusster Schritt. Obwohl sie verstreut lebten, beanspruchten die Hamelner für sich den Begriff Kibbuz. Die Organisation als Kibbuz sollte helfen, die sprichwörtliche mangelnde Anpassungsbereitschaft der "Jeckes", der deutschen Juden, in Palästina zu vermeiden. Deswegen hatte Gradnauer so sehr auf Hebräischkenntnissen bestanden, die Härten des Lebens in Palästina immer wieder betont und den Anschluss an die jüdische Arbeiterbewegung in Palästina gefordert.
Es verwundert nicht, dass die Anfänge von Cheruth im November 1926 extrem schwer waren. Hermann Gradnauer hat sie folgendermaßen beschrieben:
"Der Anfang war höchst ärmlich. Es gab kaum etwas, womit man hätte werben können. Die Gründung war auf den 1. November 1926 festgesetzt, und es blieben nur zehn Chawerim (=Genossen), die den Anfang des Kibbuz bildeten. Diese kleine Zahl war nicht nur hinsichtlich des moralischen Gewichts, sondern auch im wirtschaftlichen Sinne völlig unzureichend. Der Arbeitslohn im Winter war viel niedriger als im Sommer, und diese kleine Schar konnte den Unterhalt eines Tarbutniks (=Lehrers) nur mit äußerster Anstrengung tragen. Der Winter 1926/27 war eine fortgesetzte Kette der Sorgen und Auseinandersetzungen.
Im Frühjahr scharten sich um den Kibbuz etwa zwanzig Menschen. Niemand verließ seinen Arbeitsplatz. Es gelang dem Kibbuz, eine Art eigener Tradition zu schaffen. Die Zusammenkünfte am Schabbat und Sonntag in Emmerthal, die erste feierliche Pegischa (=Treffen) zu Chanukka im kleinen dunklen Gastzimmer des Wirtshauses in Ohr, der Kiddusch und die wichtige Ssicha (=Diskussion) über Weg und Wesen des Kibbuz – sie alle stellten bereits den Anfang für die späteren Pegischot und Feiern dar.
Da bereits ein Anfang gemacht worden war, konnten die neuen Chawerim in die Arbeit eintreten und mit ihren frischen Kräften ihr einen Antrieb geben. Die neue Kwuza (Gruppe) kam größtenteils aus Berlin. Der Ruf des Kibbuz hatte sich inzwischen so sehr gebessert, daß die besten Chawerim aus allen Teilen des Bundes es als Ehre ansahen, in Hameln auf Hachscharah zu sein."
Die Gründung als Kibbuz war ein Schritt der Festigung in einer Zeit, als die Pioniere keinen Nachwuchs mehr kommen sahen und nur noch vom Glauben beflügelt waren, durch ihre besondere Tat und Ausdauer doch noch den übrigen Bund beeinflussen zu können. Die vom Kibbuz Cheruth sagten:
"Wir werden zur Alijah kommen, trotz der Alijasperre der (=englischen) Regierung, trotz der Verzweiflung und Liquidationsstimmung der Zurückkehrenden."
© Bernhard Gelderblom Hameln