Während die Schutzjudenfamilien über Generationen am Ort blieben, herrschte nun gerade unter Juden eine erhebliche Fluktuation. Zahlreiche neue Namen tauchten in Hameln auf, andererseits lockten Großstädte wie Hannover und vor allem Berlin. Im Umkreis Hamelns machte sich eine dramatische Landflucht bemerkbar. Die Erschließung des Umlandes durch die Eisenbahn erlaubte nun eine Tätigkeit im weiteren Umkreis.
Das jüdische Bankhaus Silberschmidt am Markt (links) wird um 1900
durch die Deutsche Bank übernommen.
Das berufliche Spektrum änderte sich indes wenig. Schwerpunkte waren der Land- und Viehhandel, vor 1900, dem Aufkommen der Großbanken, spielten jüdische Privatbanken eine wichtige Rolle, in der Kleider- und Schuhkonfektion waren die Juden führend.
Schuhwaren und Confektion – Das Geschäftshaus von Salomon Keyser
in der Ritterstraße um 1900 (heute Kolle) (Quelle Stadtarchiv
Hameln)
In jüdischem Besitz war das einzige Kaufhaus der Stadt.
Neu vertreten waren einige Fabrikanten (Teppichwerke und Wollwarenfabriken). Es gab zwei, zeitweise drei jüdische Ärzte sowie zwei Rechtsanwälte. Arbeiter, Angestellte, auch berufstätige Frauen wies die traditionelle und kleinstädtische Hamelner jüdische Gemeinde kaum auf.
Während sich der Prozess der Emanzipation weitgehend als Anpassung an das "Deutschtum" realisierte, erwuchs der Antisemitismus zu neuer Größe. Die Juden nahmen die ihnen geschenkten Rechte tatsächlich in Anspruch! In Zeiten wirtschaftlicher Blüte waren der jüdische Arzt, Rechtsanwalt und Geschäftsführer noch zu ertragen. Offen brach der Antisemitismus aber in dem Augenblick in Deutschland wieder auf, als Börsenkrach (1873) und Wirtschaftskrise (1930) "den" Juden erneut zum Konkurrenten und Eindringling machten. Der rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung stand bereits seit 1875 die de facto-Diskriminierung gegenüber.
Im Gefolge der deutschen Niederlage von 1918 und der Diskussion um die Ursachen der Niederlage gibt es erneut einen starken antisemitischen Schub in der deutschen Bevölkerung. In dieser Zeit stellt die jüdische Gemeinde "dem Gedächtnis ihrer gefallenen Söhne" eine bronzene Gedenktafel in der Synagoge auf.
Zur Einweihung redet der langjährige Prediger und Lehrer der Gemeinde, Salomon Bachrach:
"Niemand hat das Recht zu sagen, der deutsche Jude habe im Kriege seine Pflicht versäumt. Auf unserer Tafel stehen sechs Namen. In jeder jüdischen Gemeinde unseres Vaterlandes kann man solche Tafeln errichten, und auf jeder stehen Namen von gefallenen Juden. Wir dulden nicht, dass man ihr Andenken schmäht. Wir stehen im Geiste vor einem einzigen großen Grabe. Die drinnen schlummern, sind Deutschlands Söhne. Für uns sind sie gestorben. Wir grüßen sie in dieser Stunde, die Tapferen, die uns erst recht mit Banden der Liebe und Treue an unser deutsches Vaterland ketten."
Den Verleumdungen des Antisemitismus entgegnet Bachrach, indem er sich noch stärker zu Deutschland bekennt. Stereotyp ist der Verweis auf die im Kriege für Deutschland erworbenen Verdienste.
Gegenüber dem Antisemitismus gerät die Gemeinde in die Defensive. Sie hat mit ihm zu leben gelernt: sie duckt sich, passt sich noch vollkommener an.
Die Zahl der Gemeindemitglieder erreichte während der Weimarer Zeit nicht mehr den Stand während der Blütezeit der Gemeinde am Ende des 19. Jahrhunderts (1902 237 Mitglieder). Bis zum Ende der Weimarer Zeit sank die Zahl der Mitglieder kontinuierlich ab (1932 159). Der Zuzug von den Dörfern wurde mit der Zeit übertroffen durch den Wegzug in die Großstädte. Die Gemeinde war leicht überaltert und es werden wenige Kinder geboren. Es gab eine größere Zahl unverheirateter oder verwitweter Personen, die vom Besitz eines Hauses, von Mieteinnahmen oder Renten (einzelne auch von der Fürsorge) lebten.
© Bernhard Gelderblom Hameln