Siegmund Kratzenstein
Dr. Kratzenstein – der kleine Mann mit dem Buckel, der
auch nachts noch mit dem Fahrrad seine Patienten besuchte – mancher alte
Hamelner hat diesen Mann noch vor Augen.
Siegmund Kratzenstein gehört einer Generation von Juden
an, die sich aus engen Verhältnissen durch großen Bildungswillen hochgearbeitet
hat. Er macht Abitur und studiert Medizin. Am jüdischen Krankenhaus in Köln
lernt er seine spätere Frau Sabina kennen, eine Jüdin aus Rotterdam.
1903 kommen die beiden nach Hameln. Dr. Kratzenstein
eröffnet eine Praxis als praktischer Arzt. Er baut das stattliche Haus Kastanienwall
3 und richtet hier Praxis und Wohnung ein.
Im Ersten Weltkrieg dient der junge Arzt als Stabsarzt
im Hamelner Reservelazarett und betreut das russische Gefangenenlager am
Wehl. Für seine Dienste erhält er das Kriegsverdienstkreuz.
Anschließend beginnt wieder eine fruchtbare Tätigkeit
als praktischer Arzt. Dr. Kratzenstein muss ein außerordentlich beliebter
Arzt und angesehener Bürger gewesen sein. Alle, die sich an ihn erinnern,
berichten im Ton höchsten Lobes von ihm. Mittellose Patienten behandelt
er kostenlos. Finanziell geht es ihm gut.
Hier hatte Dr. Kratzenstein Praxis und Wohnung.
Als Teilnehmer am 1. Weltkrieg konnte Kratzenstein
zunächst die Kassenzulassung nicht entzogen werden. Trotzdem ging sein Einkommen
ständig zurück, wie die Steuerakten dokumentieren. Bald betreute Dr. Kratzenstein
nur noch die wenigen Juden der Stadt. 1938 verloren alle jüdischen Ärzte
die Approbation und mussten sich "Krankenbehandler" nennen.
Kratzenstein war 1933 57 Jahre alt. Nach Auskunft
seines überlebenden Sohnes arbeitete er viel in seinem Garten. "Sein größter
Wunsch" sei es gewesen, noch auswandern zu können. Er lernte Englisch, sogar
Hebräisch und gab Juden, die vor der Auswanderung standen, Unterricht in
Englisch.
Die eigene Auswanderung misslang. Möglicherweise
hat er sie, der sich so sehr als Deutscher fühlte, auch nicht energisch
genug betrieben und Hitler nicht ernst nehmen wollen. Sicher war es auch
die soziale Verpflichtung der jüdischen Gemeinde gegenüber, die ihn im November
1937 zu ihrem Vorsteher wählte.
Dieses Porträt entstand kurz vor dem Tode von
Siegmund Kratzenstein (Quelle Stadtarchiv Hameln).
Die Gewalt des 9. November richtete sich in besonders
grässlicher Weise gegen Siegmund Kratzenstein – vielleicht, weil die Täter
wussten, dass ihn so viele Bürger mochten. Seine Praxis wurde zerschlagen,
er selbst aus seinem Haus geschleppt und vor die brennende Synagoge geführt.
Mit ihm wurden zehn jüdische Männer in dieser Nacht in "Schutzhaft" genommen
und in das KZ Buchenwald verschleppt.
Sein Wohnhaus wurde geplündert und wertvolle antiquarische
Bücher und zahlreiche Möbel gestohlen.
Am 25. November wurde der schwer misshandelte Mann todkrank
aus Buchenwald entlassen. Kurt Adler, dem im Anschluss an die Entlassung
aus Buchenwald die Auswanderung gelang, berichtete:
"Man hatte ihn so zugerichtet, dass ich ihn nicht
mehr erkannte. Sie haben ihm den Buckel eingeschlagen."
Dr. Kratzenstein starb wenige Tage nach seiner
Entlassung. Die Leiche musste in aller Heimlichkeit auf dem verwüsteten
jüdischen Friedhof beigesetzt werden. Sein Grab, dessen genaue Lage nur
zu vermuten ist, hat erst im Jahre 2006 einen Stein erhalten.
Was wurde aus seiner Familie?
Nach dem schrecklichen Tod ihres Gatten nahm die Ehefrau
Sabina ihre holländische Staatsangehörigkeit wieder an und ging nach Den
Haag. Dort starb sie an Magenkrebs. Das Schicksal der Deportation blieb
ihr auf diese Weise erspart.
Der Sohn Leon Elias, ein Kunstmaler, hielt sich schon
seit Anfang 1934 zusammen mit seiner Frau Elisabeth in den Niederlanden
auf. Im Jahre 1943 wurden beide in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt.
Nur dem Sohn Ernst gelang die Ausreise.
Wir können nur ahnen, welche Angst die Festnahme der
zehn Männer und ihr schreckliches Schicksal in Buchenwald in der kleinen
Gruppe der Hamelner Juden ausgelöst hat. Die Angst, man könne zu viel sagen,
lähmte alle Zungen. Seit dem 9. November 1938 wirkte die Drohung des Konzentrationslagers
permanent.
© Bernhard Gelderblom Hameln